Karriere eines „Lappen“
Shooting-Star Rudolph
Wie sich doch die Moden ändern. Vor 50 Jahren noch kam Knecht Ruprecht, eine weißbärtige, vermummte und brummige Gestalt mit Reisigrute und Jutesack, alleine oder als Begleiter des Nikolaus auf einem Schlitten sitzend, ab dem 6. Dezember in unsere Städte und Dörfer. Beide Symbolgestalten entstammen, wenn auch aus verschiedenem, in Europa verwurzeltem Volksbrauchtum. Als Kind wartete man zwar mit Vorfreude, aber auch mit gewissem Respekt, ja teilweise sogar Angst, auf diese Herren, denn wenn man das Jahr über nicht immer artig gewesen war, brachte Knecht Ruprecht auch schon mal seine Rute zum Einsatz.
Mit seinem sonorig-brummigen Bass rief er einen gleich bei Namen, sobald er in die Wohnstube gestapft war. Und er wusste auch immer bestens über sämtliche Verfehlungen, die man sich im vergangenen Jahr geleistet hatte, Bescheid. Gnadenlos wurden einem die Missetaten aufgezählt und dabei jedes Mal bedrohlich mit der Rute gewedelt. Das kleine Geschenk aus dem Jutesack gab es auch nicht umsonst: Zuerst musste man Besserung, weiterhin gutes Betragen versprechen und auch, dass man seinen Eltern immer zur Hand gehen würde. Dann musste man noch ein Gedicht oder ein Lied vortragen. Sobald man dann aber das Geschenk überreicht bekam und er sich verabschiedete, war alles gut und man konnte sich endlich entspannt und glücklich auf Weihnachten freuen.
Heutzutage beginnt die Vorweihnachtszeit bereits im Anschluss an die Sommerferien. Die Kaufhäuser geben im September das erste Signal und rüsten spätestens ab Oktober ihre Regale und Auslagen auf Weihnachtsartikel um. In keiner Dekoration fehlt mehr das Rentiergespann oder einzelne Rentiere. Wer aber macht sich überhaupt noch Gedanken über den Hintergrund solcher Symbolträger?
Rentiere sind ursprünglich in den nördlichen, klimatisch kühleren Breiten, besonders in den Tundren und Nadelwäldern, beheimatete Wildtiere. Lediglich über das Volk der Lappländer ist seit dem 9. Jahrhundert überliefert, dass sie sich Rentiere als Haustiere hielten und sogar züchteten, unter anderem zum Ziehen von Schlitten, die ihnen als Transportfahrzeuge dienten. Rentiere sind somit also auch „old Europe“.
Im Amerika von 1822 schließlich veröffentlichte ein Schriftsteller namens Clemens Clarke Moore eine Weihnachtsgeschichte, in der acht Rentiere im Gespann den voll beladenen Schlitten des „Santa Claus“ ziehen.
Diese Geschichte wurde unter den amerikanischen Kindern immer bekannter, so dass eine Kaufhauskette 1939 auf die Idee kam, den acht Rentieren aus der Weihnachtserzählung ein weiteres, rotnasiges, namens Rudolph, hinzuzugesellen. Durch Marktforschung hatte man herausgefunden, dass Kinder Außenseiter lieben. Man erfand die passende Geschichte dazu, dass nämlich Rudolph aufgrund seiner feuerrot leuchtenden Nase von den acht anderen Rentieren verspottet, gehänselt und gemieden wurde, und erst volle Anerkennung erlangte, als „Santa Claus“ sich seiner Vorzüge, dem Wege-Ausleuchten-Können bediente und Rudolph als Leittier dem Gespann voranstellte. Diese rotnasige Rentier sollte nun in seiner Außenseiterolle die Herzen der Kinder gewinnen und damit den Weihnachtsgeschenkeverkauf ankurbeln. Dieses gelang bestens und wurde von der amerikanischen Marketingindustrie immer noch weiter präzisiert. Ein 1949 passend komponiertes Weihnachtslied und schließlich ein 1964 gedrehter Zeichentrickfilm machten „Rudolph“ zum weihnachtlichen Shooting-Star, auch über Amerikas Grenzen hinaus.
Inzwischen ist auch bei uns vom ermahnenden, Furcht oder mindestens Respekt einflößenden Knecht Ruprecht kaum noch etwas zu hören. Auch ein Zeichen des Wertewandels. Natürlich ist die Geschichte vom „rednosed-reindeer“ weitaus kinderfreundlicher. Aber wenn diese „gewollte“ Kinderfreundlichkeit einzig und allein dem Zweck der Konsumsteigerung dient und damit gleichzeitig überlieferte Symbolfiguren völlig in den Hintergrund gedrängt werden, sollte es erlaubt sein, sich auch einmal über Sinn und Werte von Advents- und Weihnachtsfeierlichkeiten Gedanken zu machen. Natürlich ist es für unsere Wirtschaft von Vorteil, wenn mehr konsumiert wird.
Doch zu welchem Preis? Der Brauch des weihnachtlichen Schenkens verkommt immer mehr zur Ersatzbefriedigung für mangelnde Zeit, Werte- und Sinnmangel und Mangel an Zuwendung. Deshalb: Vorsicht vor solchen Trends! Die Geschichte lässt sich schließlich immer noch weiter steigern: Man schafft sämtliche Ladenschlusszeiten und sämtliche Feiertage, natürlich ohne Lohnausgleich, ab. Somit hätten erstens, die Unternehmen weniger unproduktive Lohnkosten und zweitens, jedermann könnte jährlich Tag und Nacht durchgehend vom 1. Oktober bis zum 26. Dezember, Weihnachtsgeschenke für seine zuhause vor dem Fernseher sitzenden, wurzellos und sinnentleert jeden Konsumtrend aufsaugenden Kinder kaufen.
Natürlich ist es lustig und herzerwärmend, wenn Kinder die Geschichte von Rudolph mögen und mittlerweile überall auf der Welt den englischen Text: „Rudolph, the red-nosed reindeer had a very shiny nose, ...“ trällern. Warum aber sollte man Kindern an Nikolaus und Weihnachten aufgrund dieser Geschichte etwas schenken?
ej