Warum ist Waldorfpädagogik zeitgemäß?
Vortrag von Herrn Frank Linde vom Waldorfkindergartenseminar Rendsburg am 3. November 2005 im Waldorfkindergarten Falkensee
In Zeiten gesellschaftlicher Orientierungslosigkeit und Umbrüche, Reizüberflutung und Materialismus in allen Bereichen des Lebens stellen sich immer mehr Eltern die Frage nach alternativen pädagogischen Konzepten. Die Waldorfpädagogik, 1919 von dem Anthroposophen Rudolf Steiner begründet, stellt für immer mehr Eltern eine ernsthafte Alternative zu herkömmlichen Konzepten dar. Aber kann eine Pädagogik, die bald 100 Jahre alt wird, den Anforderungen der heutigen Zeit noch standhalten, oder kommt sie nicht doch als verstaubt und unzeitgemäß daher?
Die Waldorfpädagogik ist kein abgeschlossenes pädagogisches System, das durch die Zeit geht ohne sich dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen, auch wenn ihr dieses von Kritikern immer wieder vorgeworfen wird. Wenn Waldorfpädagogik richtig verstanden und umgesetzt wird, ist sie auch zeitgemäß. Die entscheidende pädagogische Frage ist: Wie können wir uns im Leben mit Kindern verhalten, so dass sich deren Individualität nicht verbiegt? Wie kann die individuelle Entwicklung gefördert werden? Und was läuft falsch, wenn Kinder gegen die bestehenden Verhältnisse rebellieren und „ausflippen“?
Jede Form der Erziehung greift in die kindliche Entwicklung ein. Waldorfpädagogik fragt an erster Stelle: Was ist der Mensch seinem Gesamtwesen nach und welches sind die Bedingungen seiner Entwicklung? Der junge Mensch wird ganzheitlich betrachtet, auch seine Innerlichkeit, sein geistig-seelisches Wesen, welches durch den Körper in Erscheinung tritt. Jeder Mensch durchläuft bestimmte, grundlegend unterschiedliche Entwicklungsphasen, die in deutlicher Beziehung zum Lebensalter stehen. Dort setzt die Waldorfpädagogik an, um die von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt spezifischen Entwicklungsprozesse anzuregen. Sie ist also eine lebensalterbezogene Pädagogik. Jeder Lebensabschnitt ist anders. In jedem wirkt ein eigenes Prinzip, das eine ganz spezifische pädagogische Qualität erfordert.
In den ersten sieben Lebensjahren lernen Kinder durch Nachahmung und Vorbild. Ein Kind taucht ein in die Art, wie die Erwachsenen handeln, fühlen, sprechen und denken. So entwickelt es am Vorbild sein eigenes Verhalten. In dieser Zeit liegt es maßgeblich an der Umgebung des Kindes, wie es sich entwickelt. Diese Umgebung soll nicht nur gutes Vorbild sein, sondern auch zur geistigen Aktivität anregen. Wie sprechen die Eltern mit dem Kind? (Und nicht: Wie spricht der Fernseher mit dem Kind?). Die gesprochene Sprache ist authentisch und im wahrsten Sinne lebendig. Die Waldorfpädagogik fragt sich hier, wie kann die kindliche Umgebung, der Tageslauf gestaltet werden um die Sinne des Kindes anzuregen? Welche Spielmaterialien sind so „offen“, daß sich eine Vorstellung erst entwickeln muß? Alles Spielen wirkt auf das ganze Wesen des Kindes. Insofern ist es Hauptanliegen der Waldorfpädagogik in den ersten sieben Lebensjahren zum einen vielfältige Möglichkeiten zu körperlicher Bewegung wie Laufen, Springen, Hüpfen, Schaukeln, Balancieren, Tanzen, Klettern etc. zu bieten, zum anderen Anregung zu reichem Erleben im Spiel. Erst durch Erleben entwickelt sich kindliches Verstehen. Ist man sich zudem bewußt, daß die erste Lebenszeit bestimmt wird durch das Wachstum des Kindes, das Erlernen der aufrechten Haltung und die Entwicklung der Organe (den sogenannten Leibgestaltungsprozeß), mag es nachvollziehbar erscheinen, welche Auswirkungen z.B. mangelnde Bewegung in ihren vielfältigen Formen auf das Wachstum und die Ausbildung der Organe des kleinen Kindes hat. Nie wieder erwerben die Kinder aus eigener Willensanstrengung derart grundlegende Fähigkeiten, wie sie dann im gesamten folgenden Leben täglich angewendet werden: Gehen, Sprechen und Denken.
Die Entwicklung in dieser Zeit ist geprägt durch die unbewußte Seelenhaltung: „Die Welt ist gut.“
Erst um das siebte Lebensjahr herum, mit dem Zahnwechsel, erwirbt das Kind die Fähigkeit, sich willentlich ein eigenes Vorstellungsbild zu machen. Das Lernen im Grundschulalter ist noch nicht gedanklich abstrakt, sondern bildhaft konkret. Man kann von einem starken Bedürfnis nach Bildern sprechen, ein Bedürfnis, welches in einem begrenzten Entwicklungsstadium besonders groß ist, nämlich im Alter zwischen 6 und 10 Jahren. Bilder, die die Schüler innerlich bewegen können, ermöglichen es auch, gefühlsmäßig in die mannigfaltigen Erscheinungen der Welt einzutauchen und sie allmählich von innen her zu begreifen. Reine Wissens- und Faktenvermittlung interessiert keinen jungen Menschen. Wenn der Unterricht aber künstlerisch-dramaturgisch gestaltet wird, indem im rhythmischen Wechsel Spannungen aufgebaut und wieder gelöst werden, wird Schule lebendig. Das kann an jeder Schule geschehen. Mit dem Lernstoff als Mittel wird die individuelle Entwicklung gefördert, so daß sich die Wahrnehmung differenziert, die Urteilskraft und das Denkvermögen sich entwickeln, sich aber auch manuelle und künstlerische Fähigkeiten bilden können.
Die unbewußte Haltung in diesem Lebensabschnitt lautet: „Die Welt ist schön!“
Erst im dritten Lebensjahrsiebt (ab der 9. Klasse) begreift das Kind Zusammenhänge aus eigener Einsicht. So werden in der Waldorfschule inhaltlich betonte Fächer wie Deutsch, Geschichte, Biologie, Chemie, Physik und Mathematik im sogenannten Epochenunterricht durchgenommen: Durch 3 - 6 Wochen hindurch wird täglich ein in sich geschlossenes Teilgebiet eines Faches bearbeitet. Durch die tägliche konzentrierte Beschäftigung und ein fortschreitendes Einleben hat jeder Schüler die Möglichkeit, sich intensiv in ein Gebiet einzuarbeiten und sich mit dem Unterrichtsgegenstand auseinanderzusetzen. Dies führt dann zu dauerhaftem Können, eine bewußte Gedankentätigkeit wird angeregt und Denkprozesse werden initiiert.
„Die Welt ist wahr!“
Abschließend sei hinsichtlich der Zeitgemäßheit der Waldorfpädagogik festzuhalten, daß auch hier die Qualität des Handelns ausschlaggebend ist, d.h., eine gute Waldorfpädagogik kann immer nur so gut sein wie die Menschen, die sie umsetzen.
Iris Jung